"Der Fall Babel"

Der Turm Babel
Der Turm Babel

Im wirklichen Leben sind die Komponistin Elena Mendoza und der Regisseur Matthias Rebstock kein Paar, in den Sphären der Kunst schon, um genau zu sein, in der Welt des Musiktheaters. Vor gut einem Jahrzehnt begann diese Liaison. Damals war Udo Zimmermann noch Leiter des Europäischen Zentrums der Künste in Hellerau bei Dresden. Unter seiner Ägide wurden neuer Musik und neuem Musiktheater breiter Raum eingeräumt und hier wurden auch die Voraussetzungen geschaffen, ein Musiktheater unter neuartig erscheinenden Bedingungen zu produzieren: Niebla nach einer Novelle von Miguel de Unamuno.

"Es hatte aber alle Welt einerlei Zunge und Sprache. Da zogen sie nun gen Morgen, fanden sie ein ebenes Land im Lande Sinear, und wohnten daselbst. Und sie sprachen untereinander: Wohlauf, lasst uns Ziegel streichen und brennen ... lasst uns eine Stadt und einen Turm bauen, des Spitze bis an den Himmel reiche, dass wir uns einen Namen machen! Denn wir werden sonst zerstreut in alle Länder. Da fuhr der Herr hernieder, dass er sähe die Stadt und den Turm, die die Menschenkinder bauten. Und der Herr sprach: Siehe, es ist einerlei Volk und einerlei Sprache unter ihnen allen, und haben das angefangen zu tun ... Wohlauf, lass uns hernierfahren und ihre Sprache daselbst verwirren, dass keiner des anderen Sprache verstehe!"

Altes Testament, 1. Buch Mose



In der Regel folgen Musiktheaterproduktionen einer bestimmten Chronologie und Arbeitsteilung. Zunächst entsteht das Libretto, das anschließend vertont wird. Auf der Grundlage der so entstandenen Partitur kommen die Interpreten ins Spiel: musikalische Leitung, Regie, Bühnenbild, Kostüme, Lichtdesign. Wenn es an die Umsetzung von deren Konzepten geht, wird schließlich die gewaltige Maschinerie des Opernbetriebs in Bewegung gesetzt. Das Ergebnis eines solchen Prozesses kann großartig sein, aber die Gefahren, die er birgt, sind nicht unerheblich. Allerdings waren es nicht diese Risiken, die Elena Mendoza und Matthias Rebstock nach alternativen Arbeitsstrukturen suchen ließen, sondern der Hauptgrund war inhaltlicher Natur: Es ging und geht beiden um die "Suche nach neuen Möglichkeiten, mit den Mitteln des Musiktheaters (Musik, Schauspiel, Raum, Bild, Sprache, Körperlichkeit) eine genuine Erzählform zu gestalten. Musik, Text und Szene sollen eine formale und strukturelle Eigenständigkeit aufweisen und gleichzeitig dennoch offen genug gestaltet sein, damit sie in Beziehung zueinander treten können und sich erst in diesem Zusammenspiel ein Ganzes ergibt. Der Fokus liegt also auf den Interaktionsmöglichkeiten: Idealerweise sollen die Mittel des Theaters zu Mitteln der Musik werden und die der Musik zu denen des Theaters bzw. der Sprache, um aus dieser dichten Vernetzung eine Geschichte zu gestalten, die nur auf diese Weise erzählt werden kann." (Elena Mendoza, Matthias Rebstock)



Diese enge Verzahnung von Musik und Szene bedingt eine intensive Zusammenarbeit von Komponistin und Regisseur: Sie entwickeln ihre Werke in Ko-Autorenschaft: Konzeption und Komposition werden mit Blick auf die szenische Realisierung angelegt, die in einer gemeinsamen Regie umgesetzt wird. Auch die anderen Mitglieder des Teams werden frühzeitig einbezogen. Noch während des Kompositionsprozesses werden Vorproben abgehalten, Ideen erprobt, Anregungen seitens der Interpreten aufgenommen, die dann wieder in den Kompositionsprozess einfließen. Niebla wurde 2007 zu einem großen Erfolg und wurde außer in Dresden auch am Konzerthaus Berlin und in Madrid gezeigt.

Die Klangwelt von Elena Mendoza ist ebenso komplex wie sinnlich. Die Theatralisierung des Musikalischen zeigt sich oftmals darin, dass die Instrumentalisten agieren, so dass die Klänge mit ihnen im Raum wandern und dass Elena Mendoza auch darüber hinaus Konstellationen schafft, in denen die Musik an verschiedensten Punkten des Aufführungsraumes verortet werden kann.

Für die Schwetzinger SWR Festspiele 2019 haben sich Elena Mendoza und Matthias Rebstock einem ebenso alten wie aktuell brisanten Stoff zugewandt: dem Mythos um den Bau des Babylonischen Turms. Nachdem die Menschheit Gott mit dem Turmbau zu Babel herausgefordert hat, straft der sie mit Mehrsprachigkeit. Die einander nicht mehr verstehenden Menschen werden so daran gehindert, den Turmbau zu vollenden. Durch diesen Mythos, der nicht nur in der jüdisch-christlichen, sondern auch in der arabischen Tradition überliefert ist, wird als gottgegeben erklärt, dass ein vielstimmiges Zusammenleben in Anerkennung der Differenz nicht möglich sei. Demzufolge wäre das Wiederherstellen einer gleichsam vorhistorischen Einsprachigkeit Bedingung, um des verlorengegangenen paradiesischen Zustandes wieder teilhaftig zu werden. In der Realität aber haben sich durch die Menschheitsgeschichte hindurch gerade aus der Vorstellung von Einheit und Homogenität immer wieder die zerstörerischsten Ideologien entwickelt. Immer ging es dabei um die ›Wahrung‹ und ›Verteidigung‹ bestimmter kollektiver Identitäten, wofür Differentes ausgegrenzt, unterdrückt oder ausgemerzt werden sollte. Solche Tendenzen lassen sich gegenwärtig in vielfältigster Ausformung und in erschreckendem Ausmaß beobachten.

"Und in welcher Sprache träumen Sie? – Ich weiß das leider nicht. Ja, es ist sicher eine Sprache, aber eine Sprache, die ich nie gelernt habe. Ich verstehe meine eigene Traumsprache nicht."

Yoko Tawada



In "Der Fall Babel" greifen Elena Mendoza und Matthias Rebstock freilich nicht auf die ursprüngliche Form des Mythos zurück, sondern auf eine moderne Variante aus der Feder des italienisch-mexikanischen Schriftstellers Fabio Morábito, der in seinem Kurzessay Por qué traducimos (Warum wir übersetzen) den Zustand der Einsprachigkeit nicht in die Vergangenheit, sondern in die Zukunft projiziert. Aus dem ersehnten vorzeitlich-paradiesischen Zustand wird bei ihm die Vision einer kulturell verarmten Welt, deren Bewohner auf unsere Gegenwart zurückblicken, sich fragend, wie man in einer so unübersichtlichen Realität wie der unseren überhaupt überleben konnte.



"Sehen Sie, eine Sprache ist ein Kontinent – es gibt soviel zu entdecken."

Cécile Wajsbrot



Dieser Text Morábitos wird nun nicht direkt vertont, aber seine Grundidee, die Umkehrung des Mythos – der Weg von der Mehrsprachigkeit über eine Katastrophe zur Einsprachigkeit – ist auch die Grundidee von "Der Fall Babel". Er bildet gleichsam das gravitative Zentrum für drei Geschichten, die von Phänomenen künden, die durch das Sprechen verschiedener Sprachen entstehen. Dabei geht es um das Übersetzen, den Verlust der Muttersprache und um die verschiedenen Identitäten, die man durch den Wechsel der Sprachen annehmen oder verbergen kann. Die zugrundeliegenden Texte entstammen der zeitgenössischen Literatur: Los Vetriccioli von Fabio Morábito, Bioskoop der Nacht von Yoko Tawada und Avec un double V von Cécile Wajsbrot. Die Autorinnen und den Autoren eint, dass die Erfahrung von Mehrsprachigkeit prägend für sie war. Fabio Morábito wuchs in Italien auf, wanderte als 15-jähriger nach Mexiko aus und schreibt ausschließlich auf Spanisch. Yoko Tawada stammt aus Japan, kam zum Studium nach Deutschland, blieb hier und schreibt auf Japanisch und Deutsch. Cécile Wajsbrot, als Tochter polnisch-jüdischer Geflüchteter 1954 in Paris geboren, lebt als Schriftstellerin und Übersetzerin in Paris und Berlin.



Die drei Texte entfalten surreal anmutende Konstellationen: Los Vetriccioli erzählt von einer noblen Übersetzerfamilie und entwirft das kafkaeske Bild eines labyrinthischen Gebäudes, in dem die unzähligen Familienmitglieder aller Generationen vom Dachstock bis ins entlegenste Kellergewölbe damit befasst sind, kunstvollste Übersetzungen zu verfertigen, getrieben vom Anspruch höchster sprachlicher Vollkommenheit und in gänzlicher Abgeschiedenheit von dem, was Welt sein könnte. Die verschafft sich allerdings gewaltsam Zutritt in Gestalt der konkurrierenden Familie Guarnieri, welche die Vetricciolis kurzerhand massakriert.

In Bioskoop der Nacht sucht eine japanisch-deutsche Frau nach der Sprache, in der sie träumt, erfährt, dass das Afrikaans sei und macht sich auf eine Reise nach Südafrika, das sie bislang ebenso wenig kannte wie diese Sprache. Dort besucht sie einen Sprachkurs, um Dolmetscherin in ihren eigenen Träumen sein zu können. Oder ist die gesamte Reise nur ein Traum?

Auch in dem zwischen Französisch und Deutsch changierenden Hörspiel "Avec un double V" geht es um eine Unterrichtssituation. In diesem Fall spielt sie kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges in Paris: Eine Deutschlehrerin, die aus Scham ihren deutschen Ursprung zu verbergen versucht, begegnet einer französisch-jüdischen Schülerin, die im Gymnasium "die Sprache des Feindes" lernen soll. Begleitet von den allegorischen Instanzen "Die Sprache", "Die Zeit" und "Der Tod" reisen wir durch die Gedankengänge und Träume beider Figuren.

Diese drei Erzählungen werden in "Der Fall Babel" miteinander verschränkt und simultan erzählt. Gemeinsame Motive und ähnliche Situationen bieten Möglichkeiten der Verknüpfung: In allen Erzählungen geht es um Übersetzen, in zweien begegnen uns Unterrichtssituationen, allen ist etwas Surreales zueigen. Die Geschichten münden in einen Albtraum, der zur Katastrophe führt. In einem Epilog blickt man – und nun kommt Morábitos Essay wieder ins Spiel – aus einer fernen Zukunft, aus der Vielfältigkeit und Kreativität verschwunden sind, zurück auf die untergegangene Gegenwart mit all ihren Widersprüchen und all ihrem damit unlösbar verbundenen kulturellen Reichtum.

Wie aber kann diese Verknüpfung dreier Erzählungen auf der Bühne praktische Umsetzung erfahren? Die Phantasie von Elena Mendoza und Matthias Rebstock entzündete sich dabei an dem von Fabio Morábito in Los Vetriccioli entworfenen Bild des Hauses der Übersetzerfamilie: "Entsprechend dieser Idee der labyrinthischen, unüberschaubaren Übersetzerwerkstatt ist die Bühne eine riesige 'Sprachmaschine': In jedem Winkel wird übersetzt, unterrichtet, geschrieben und gedruckt. Manuskripte wandern über komplizierte Wege, Förderbänder und Seilbahnen von Tisch zu Tisch, Nachschlagewerke werden umhergetragen und Tinte fließt durch ein weitverzweigtes Leitungssystem bis in den letzten Winkel. Diese Sprachmaschine ist gleichermaßen Bühnenbild und Klangraum: Der Klang der Aktionen und Objekte bildet das Basismaterial für die Komposition und mischt sich mit dem Gewirr der menschlichen Stimmen zu einem babylonischen Durcheinander, aus dem dann die einzelnen Szenen der verschiedenen Erzählstränge hervortreten." (Elena Mendoza, Matthias Rebstock)



- Jens Schubbe

Eine Veranstaltung der