"Josquins Europa"
- ein virtuelles Netz von Aufführungen

Josquins Europa ist ein Netzwerk audiovisuell aufgezeichneter Kompositionen und interaktiver Klanginstallationen im virtuellen Raum. Für das Publikum ist Josquins Europa mithilfe von VR-Headsets zugänglich. Josquins Musik markiert das Ende des Mittelalters und den Anbruch der musikalischen Neuzeit. Seine Kontrapunktik übersetzte die überlieferte Mehrstimmigkeit in ein neues Denken und Fühlen und wurde so zum dialektischen Zentralbegriff der europäischen Musiksprache bis heute. Ausgehend von Josquins 500. Todestag stellen wir die Frage, inwieweit wir selbst vor einer Epochenschwelle stehen oder die digitale Technik sie bereits überschritten und uns als bloße Daten-Herde und Konsumwesen zurückgelassen hat. Auf klassische Musik bezogen heißt dies: Eröffnet kontrapunktisches Denken dem Menschen im Wirbelsturm der technologischen Entwicklung einen emanzipierten Zugang zur virtuellen Realität? Wie wandelt sich dieses Denken angesichts solcher Herausforderungen? Dafür schaffen wir mit Josquins Europa einen virtuellen Raum, den wir mit darauf zugeschnittenen Auftragskompositionen füllen. Jedes Werk wird an einem jeweils eigenen Ort mit 360°-Kamera und Ambisonics-Mikrofonen aufgezeichnet. Die mit VR-Headset ausgestatteten Hörer können so ihren Platz frei wählen, etwa im Schnittpunkt zwischen den Sängern. Dieser im realen Leben unzugängliche Punkt ist dabei zugleich der ideale, um die sich ständig wandelnden Bezüge zwischen den einzelnen Stimmen polyphoner Musik zu erfassen. Josquin und andere haben so gesehen für eine virtuelle Hörposition komponiert, an der allein die architektonische Komplexität ihrer Musik zur Gänze erfahrbar wird. Diese Position wird erst im digitalen Raum zur Realität. Zwischen den jeweiligen Aufnahmeorten der Kompositionen bewegen sich die Hörer virtuell in digital animierten Gängen. In Abhängigkeit dieser Bewegung entstehen Übergänge zwischen den verschiedenen Architekturen und werden die interaktiven Klanginstallationen beeinflusst, die zwischen Geschichte und akustischer Umgebung der Aufnahmeorte vermitteln. Josquins Geburtsort Saint-Quentin wurde vor 150 Jahren zum Schauplatz der entscheidenden Schlacht an der Nordfront im deutsch-französischen Krieg. Im ersten Weltkrieg wurde hier der deutsche Vormarsch gestoppt und in den Stellungskrieg gezwungen, der weite Teile Flanderns völlig verwüstete. Flandern gehört zum ältesten Bestand des Karolinger-Reichs, das geographisch wiederum an den ersten Vorläufer der EU erinnert: In Flandern verdichtet sich die Geschichte von Frankreich, dem Benelux, Deutschland und Italien, Josquins langjährigem Wirkungsort. Langfristig soll Josquins Europa ebenso ein Gedächtnis- wie Zukunftsort der europäischen Musik werden. Gegenstand dieses ersten Projektsteils ist auch im Sinne der Überschaubarkeit eine erste Ausbaustufe im Jahr 2021, mit Aufnahmen von Josquins La Déploration de Johannes Ockeghem sowie einer Auftragskomposition von Sebastian Claren, der Ockeghems Missa Mi-mi zugrunde liegt.