Eros und Gewalt
Im Zeichen von Eros und Gewalt treffen, gesungen von der SCHOLA HEIDELBERG unter Walter Nußbaum, Werke der Vokalmusik aufeinander und auf ihre poetische Grundlage, auf italienische Madrigaldichtung in der Rezitation durch den Schauspieler Michael Rotschopf. Aber Verse und Gesänge begegnen sich auf mehr als einer Ebene, ist doch gesungene Sprache mehr als die lineare Abfolge ihres Wortlauts und ihrer Texte und weit mehr als der Affektkatalog eines lyrischen Ichs oder eines komponierenden Subjekts.
Leben oder Tod der beiden Komponisten Don Carlo Gesualdo da Venosa (1566–1613) und Claude Vivier(1948–1983) scheinen auf die eine oder andere Weise von Gewalt geprägt: Gesualdo gilt als Auftraggeber eines Eifersuchts- oder Ehrenmordes, Vivier als Mordopfer aus Habgier, Not, Affekt. Aber was davon wollen wir hören, was können wir nur lesen, was wollen wir wissen? Müssen wir „morte“ buchstäblich als Tod verstehen oder aber, wie das ein manierismensüchtiges Elitepublikum um 1600 konnte, metaphorisch als Umschreibung von Lust und sexueller Erfüllung – Stück für Stück, Madrigal für Madrigal? Wie sittlich rein (oder unrein) können uns diese Madrigale als rezitierter, „reiner Text“ erscheinen, zwischen ihrer Musik, und wie fremd im Klang des halbvertrauten Italienisch? Claude Vivier dekonstruiert und rekonstruiert in seiner – einfach Chants, Gesänge genannten – Frauenstimmenmusik die Sprache selbst aus Traumfetzen, Gedankensplittern, Requiemtröstung und katholischer Marienmystik, vielleicht nicht ohne Spuren von Eros und Gewalt. Sein Werk ist für ihn „Wiedergeburtsritual“, aber wir wissen auch: Nie erlaubt Musik, nirgends erlaubt diese Musik oder jene der Madrigalisten rückstandlose Entschlüsselung und Identifikation eines lyrischen Ichs. Und wie verfehlt wäre es, jenseits von Standeskonventionen und Ehrenkodices ihrer Zeit die Musik Gesualdos moralisch von der seines ethisch unauffälligeren, aber ästhetisch kaum konventionelleren Zeitgenossen Michelangelo Rossi (1601–1656) unterscheiden zu wollen – es sei denn auf dem Weg des Hörens.
Neben Rossi (aber auch neben Vivier) könnte sich Gesualdos affektgeladene und chromatisierte Harmonik, die seit Igor Stravinsky zahllose Komponisten der Gegenwart herausfordert und anregt, als gar nicht so solitär erweisen – und gemeinsam mit Rossi heute zuallererst eine vermeintliche Gewissheit unserer Musikpraxis in Frage stellen: das allzu schwarz-weiße Tastenbild gleichstufig temperierter Stimmung und exakt gleicher Stimmungsverhältnisse, grau in grau Akkord für Akkord. In der farbigen Chromatik dieser Madrigale aber gleicht kein Akkord dem anderen. Wie kein Affekt, kein Mensch, kein Leben und kein Tod. Weder Viviers noch Gesualdos Musik fordern eine direkte biografische Zuordnung. Ihre Ebenen bilden und bleiben ein großes Beziehungsfeld: Als Biotop, als Soziotop, als Topographie von Gehirnarealen und umschrieben rein von Klängen und Sprache.
Kaufbetrag: 16,00 €