Netzwerk Madrigal
Die intensive Auseinandersetzung von Walter Nußbaum und der SCHOLA HEIDELBERG mit Don Carlo Gesualdo di Venosa und anderen Renaissancekomponisten mündet 2009 in das „Netzwerk Madrigal“.
Der musikalische Affekt-Ausdruck in Melodik und Harmonik charakterisiert die Madrigalkunst der italienischen Renaissance und prägt die Entstehung des dramatischen Sologesangs in Oper, Oratorium und Kantate. Die originalen Madrigale wurden in Auftragskompositionen von 19 zeitgenössischen Komponistinnen und Komponisten mit der Gegenwart verknüpft und kommen durch Eingangsstücke und Zwischenspiele neu und vielschichtig zur Wirkung.
Bei Gesualdo, Marenzio, Michelangelo Rossi und Zeitgenossen finden sich in Tonarten, Intonation und Intervallik (19stufige Oktave, Gebrauch des Cembalo universale usw.) fruchtbare Anknüpfungspunkte zu modernen Kompositionstechniken wie der der Mikrotonalität – aber auch zu den Tonsystemen der alt- und außereuropäischen Musikkulturen, etwa aus Bulgarien und Vietnam.
Die uraufgeführten Auftragswerke von Willem Boogman, Stefano Gervasoni, Karin Haußmann, Joachim Heintz, Alberto Hortiguëla, Matthias Kaul, Sven-Ingo Koch, Jan Kopp, Bernhard Lang, Uwe Lohrmann, Martin Messmer, Wolfgang Motz, Naomi Pinnock, Steffen Schleiermacher, Cornelius Schwehr, Jakub Sarwas, Martin Smolka, Christian Utz und Caspar Johannes Walter bereichern die traditionelle Madrigal-Gattung um zukunftsweisende Aspekte. Gleichzeitig paraphrasieren und gestalten sie allgemeingültige psychische Vorgänge: Aus einer inneren musikalischen Logik reflektiert so die Gegenwart das scheinbar Vergangene.
Dabei stellten sich das KlangForum Heidelberg, seine Ensembles und Komponisten, der besonderen Herausforderung, die bei konzertanten Darbietungen von Madrigal-Formen bis heute besteht: nämlich der Gefahr der Ermüdung durch Reihung jeweils nur drei bis fünf Minuten kurzer, hoch konzentrierter Formen. Ohne sie auf Material oder Fundus zu reduzieren, sind neue Madrigal-Zyklen in dramaturgisch durchkomponierten Konzertformen entstanden.
Literarischer Gehalt von Madrigalen sind häufig Begehren, Lust und Verlust in metaphorischer Verkleidung. Die Umschreibung des sexuellen Höhepunkts als Tod, „piccola morte“ etwa ist einer der roten Fäden, an den die enorm gesteigerten, manieristischen Harmonieverläufe in Madrigalen von Gesualdo, Marenzio und Rossi anknüpfen. Schroff und modern zugleich sind die Harmoniewechsel bis heute eine Herausforderung für Interpreten wie Anregung für Komponisten.
In der Neugestaltung verbindender oder kontrastierender „Übergänge“ bedient sich das „Netzwerk Madrigal“ eines modernen, hybriden Ensembles aus vokalen, instrumentalen und elektronischen Kräften. Vielfältige Möglichkeiten zu ihrer Integration und Kommentierung bieten sich auf musikalischer, dramaturgischer, auch sozialhistorischer und technischer Ebene, zum Beispiel in der Fortführung mikrotonaler Konsequenzen extrem chromatisierter Intonation bei Gesualdo durch erweiterte Tonsysteme, etwa mit Fünftelton-Unterteilung (31fache Teilung der Oktave, Archicembalo).
Auch die sprachliche Ebene der Madrigalistik wird in den neuen Madrigal-Kompositionen bis in die Gegenwart erweitert, etwa in den (von Karin Haußmann vertonten) Texten des Heidelberger Lyrikers Hans Thill. Die 2012 im Rahmen des Literatursommers Baden-Württemberg uraufgeführten Werke bildeten gemeinsam mit dem Jubiläumsfestival 20 Jahre KlangForum Heidelberg sowie einem Konzert im Jahr 2013 den Grundstock des „Netzwerks Madrigal“.
Bis heute greifen Komponisten thematisch auf Madrigale und ihre Vernetzbarkeit zurück, insbesondere im Projekt Prinzhorn oder Niklas Seidl in seiner Auftragskomposition „Maderijåal“ (UA 2014). Auch bei der Uraufführung der „Zwischenspiele" für mikrotonale Orgel zu Madrigalen von Gesualdo, Marenzio, Gabrieli, Rossi und Hassler von Caspar Johannes Walter bei den Schwetzinger Festspielen 2017 handelt es sich um eine Fortführung von Anregungen aus dem „Netzwerk Madrigal“.